Autor: David Whitehouse
Titel: Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek
Übersetzer: Dorothee Merkel
Verlag: Tropen
Erscheinungsdatum: 21. Februar 2015
Seitenzahl: 314
Originaltitel: Mobile Library
ISBN-10: 3608501487
ISBN-13: 978-3608501483
Rezension:
David Whitehouses Roman „Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ beginnt wie eine leichte Lektüre, die den Leser auf eine phantastische Spannungsreise entführt, in Wirklichkeit jedoch die Schattenseiten und die zwangsläufig daraus resultierenden guten Momente des Lebens zeigt. Dabei ist die Geschichte noch viel mehr als das, aber auch genau das.
»Es fühlte sich an, als würde man ein Buch aufschlagen, von dem man nicht das Geringste wusste.«
Bobby Nusku, zwölf Jahre alt, ist in seinem Elternhaus gefangen, das durch die Egozentrik und Brutalität seines Vaters, sowie dessen neuer Lebensgefährtin bestimmt wird. Für seine verschwundene Mutter protokolliert er jedoch jedes kleinste Detail des Alltag, von den Besuchszeiten der Gäste bis hinzu den Ess,- und Schlafgewohnheiten seines Vaters und dessen Freundin, was den jungen Protagonisten allerdings nur kurzzeitig von der Tristesse seines Daseins oder auch den Übergriffen älterer Mitschüler ablenkt. Bis er schließlich Sunny begegnet, einem Jungen, der ebenfalls isoliert und in seiner Einsamkeit gefangen ist.
»Sunny wusste nur zu genau, was es hieß, einsam zu sein. Lärmende Menschenmengen, die im Kreis um eine betäubende Stille in der Mitte wirbeln, dort, wo man selbst sitzt.«
Zusammen entfliehen die Beiden einen Sommer lang ihrem „Schicksal“ und knüpfen gemeinsam die ersten Bande einer tiefen Freundschaft. Als die zwei Jungen, inspiriert durch einen Film, jedoch den Plan schmieden aus einem von ihnen einen Cyborg zu bauen, wird spätestens in der dritten Phase der Umsetzung dieser Idee und nach der Konfrontation mit dem realem Leben, ihre Beziehung auf eine harte Bewährungsprobe gestellt.
Doch immer wenn das denkbar Schlechteste eintritt, kommt auch etwas unerwartet Positives aus dem bisher Geschehenem auf. So wird Bobbys weiterer Weg bald darauf von Rosa und Val Reed gekreuzt, mit denen er nicht nur überstürzt zu einer abenteuerliche Reise mit einer vierrädrigen Bibliothek in Form eines Bücher-LKWs aufbricht, sondern die fortan auch zu wichtigen und für ihn überlebensnotwendigen Schlüsselpersonen werden. Eine Reise, nun gut man könnte auch – etwas realistischer betrachtet – von einer Flucht sprechen, welche von dem Mut anderen Menschen Vertrauen zu schenken geprägt ist und welche Begegnungen mit Charakteren zeichnet, die man nicht in eine Schublade packen kann und von denen man gerne mehr lesen möchte.
Das Buch wirkt wie ein modernes Märchen, ist aber trotzdem ein Roman der Gegenwartsliteratur, welcher einen be-, als auch verzaubert und mich persönlich an den Film „Terrabitia“ erinnert. Was nämlich gar wirr und unverständlich mit einem Teil des Endes beginnt, entwickelt sich im Verlauf der nachfolgenden Kapitel zu einer bildgewaltigen Geschichte, die zeigt, dass es pauschal kein ‘Schwarz,- und Weißdenken’ – kein reines Gut und Böse – gibt; vielmehr alles im Leben aus verschiedenen Farben und ‘Grauschattierungen’ besteht. Gespickt und verziert mit zahlreichen Alliterationen und liebevollen Anspielungen auf die verschiedensten Werke der Weltliteratur, von Klassikern, über Kinderbücher bis hin zur Phantastik, entsteht so eine wunderschöne und unverwechselbare Erzählung.
»Gutes ergibt sich aus Schlechtem und Schlechtes aus Gutem und so geht es immer weiter. Genau wie im Leben. Bücher sind das Leben. Es gibt nicht nur den Teil, den du liest. Sie fangen schon lange vorher an. Und sie gehen danach weiter. Alles geht ewig weiter. Du nimmst nur für ein paar Seiten daran teil, für die Dauer eines winzigen, aus der Zeit geschnittenen Fensters.«
Generell nimmt das Thema des Phantastischen im Buch viel Raum ein, wodurch die Geschichte einem Brücken baut und Fluchtwege bereitet, einen gleichzeitig allerdings auch Motivation finden lässt, die eigenen Träume zu realisieren. Vielleicht erinnert einen die „Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ aber auch einfach daran, dass Leben und seine Vielfalt etwas mehr zu genießen. Auch ruft einem Bobbys ‘Roadtrip’ in Erinnerung nicht vorschnell zu urteilen und beispielsweise von dem Äußerem einer Person auf ihr Inneres zu schließen. Gleichermaßen lehrt sie den Leser nicht wegzuschauen und häufiger mal die Augen auf seine Mitmenschen zu wenden.
Vielleicht mag die Moral von der Geschichte bereits hunderte Mal von anderen Autoren in ähnliche Formen gegossen worden sein, trotzdem finde ich persönlich, dass diese aufgrund ihrer Bildsprache einzigartig bleibt und überzeugend ist!
Und einmal Hand auf’s Herz, wer hat sie nicht schon einmal gesehen oder kennt sie: die vielen Bobbys oder Sunnys unserer Gesellschaft und würde sich nicht auch eine Ende wie im Buch wünschen.
… Man muss nur sehen, verstehen und manchmal auch über sich selbst hinaus wachsen.
»Die Bibliothek hatte ihr Geschenke in sie hineingepflanzt. Wörter. Mikroskopisch kleine, feinste Spuren menschlicher Erfahrungen, die ihnen für immer ins Blut übergegangen waren. In jede Entscheidung, die sie von nun an trafen, würden das Wissen und die Erfahrung tausender Romanfiguren einfließen, deren Leben in den vier Wänden der Bibliothek enthalten waren. Für jedes Problem, dem sie in Zukunft gegenüberstanden, war in zahllosen letzten Kapiteln längst eine Lösung gefunden worden. Liebe, Verlust, Leben, Tod, all jene gewaltigen Schicksalsstürme, die über einen Menschen hereinbrechen, waren auf den Seiten der Bücher so oft überwunden worden, dass man sich ihnen niemals wieder allein gegenüberstellen musste.«
Quotes:
- Fehler sind jene Momente, während derer wir die Zukunft so fest umklammern, dass sie uns zwischen den Fingern zerbirst, und wir erkennen, dass wir aus den verbliebenen Bruchstücken eine vollkommen andere Zukunft bauen müssen, eine, die nie wieder so gut sein wird wie vorher.
- Das – so hatte ihn die Zeit mit Sunny gelehrt – war Freundschaft. Wenn dir jemand den Schlüssel für einen bis dahin zugesperrten Teil deiner Seele gab.
- Was ist schon der Tod? Nicht das Ende. Der Tod ist nur ein Komma oder bestenfalls ein Doppelpunkt. Und der jämmerliche Halunke, der noch am Leben ist, wenn endlich der Punkt kommt, ist nur zu bemitleiden.
- Familie. Ein Puzzle aus Menschen. [...] Eine Familie muss nicht aus einem Vater, einer Mutter, einem Sohn und einer Tochter bestehen. Familie ist dort, wo es genug Liebe gibt.
Wertung: 5,5 /7 Schreibfedern
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