Autor: Haruki Murakami
Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Übersetzer: Ursula Gräfe
Verlag: btb
Erscheinungsdatum: 2015
Seitenzahl: 320
Originaltitel: Shikisai o motanai Tazaki Tsukuru to, kare no junrei no toshi
ISBN-10: 344274900X
ISBN-13: 978-3442749003
Rezension:
In „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ von Haruki Murakami kommen traditionelle, japanische Gesellschaftsideen, moderne Lebensentwürfe und individuelle Schicksale zusammen, welche durch die Erfahrungen von Tsukuru Tazaki farbig ausgeleuchtet werden.
Im Handlungsaufbau wechseln sich Kapitel aus der Gegenwart unregelmäßig mit Vergangenheitsrückblenden ab, wodurch die parallelen Erzählstränge dem Leser eine gute Gesamtperspektive ermöglichen.
So stellt Tazaki das fünfte Mitglied einer Freundesgruppe aus Nagoya dar, welche sich in der Oberstufenzeit zusammenschloss und fortan eine harmonische, wie aber auch undurchdringliche Einheit bildete, bevor eine erste Phase des Aufbruchs nahte und Tsukuru zu Studienzwecken nach Tokio zog, während Aka, Ao, Kuro und Shiro in ihrer Geburtsstadt blieben. Doch auch die Distanz sollte der Freundschaft anfänglich keinen Abbruch tun und daher bestand der Zusammenhalt der Gruppe fortdauernd. Bis der junge Ingenieurwisschensschaftsstudent eines Tages nach Ankunft in seiner Heimat plötzlich von den anderen ignoriert und verleugnet wird. Der für ihn mit einem halbherzigen Rechtfertigungsversuch abgewiesene Tsukuru kehrt tief verletzt in die Hauptstadt zurück und verfällt folgerichtig in Depression.
Nichts vermag sein Leid zu lindern und nur die eigene Nutzlosigkeit scheint für ihn eine plausible Erklärung für die vergangenen Ereignisse, sowie seine jetzige Situation zu sein. Den Tod als steten, freundlichen Begleiter blickt die Hauptfigur so denn in eine monotone Lebenswirklichkeit.
Erst ein Traum Tsukurus, in welchem er von einer Vision einer irrealen Auserwählten vor die Wahl zwischen dem Körper und dem Herz der Frau gestellt wird, da sie beides nicht einunddemselben Mann schenken könne, leitet das Ende der suizidalen Gedanken ein. In seiner Phantasie verzichtet der junge Mann folgedessen auf beides und sagt sich aufgrund dieses Erlebnisses von seinem persönlichen Abgrund vorerst los. In Tsukurus Realität scheint der Traum jedoch weitreichendere Folgen, als ursprünglich erahnt, zu haben, da dieser fortan und unbewusst seine Sexualität, sowie Intimität – vor allem in Form von Nähe, Freundschaft und Liebe – zu trennen scheint, was ihn immer wieder zu nicht nur körperlich unbefriedigten Situationen bringt. Bis schließlich Sara Kimoto in sein Leben tritt, eine Frau die ihm den Impuls schenkt die Rätsel seiner Vergangenheit, als auch Psyche zu ergründen.
Ermutigt von diesem Anreiz begibt sich der Leser zusammen mit dem mittlerweile Sechsunddreizigjährigen auf eine Reise zu den Wurzeln seines Lebens und Erlebens.
Ein Autor, an dem sich bereits die Geister des Literarischen Quartetts schieden, ein Buch, das in Japan spielt, noch dazu eine philosophische Thematik und eine Spannung verheißende Geschichte enthält – gibt es bessere Gründe für mich ein Werk zu lesen?!
Sicher nur wenige und trotzdem ist meine Reaktion auf die Erzählung gemischter Natur. Denn sowohl die positiven, als auch negativen Merkmale halten sich überwiegend die Waage. So sticht einem beispielsweise bereits vordergründig der gut beschriebene Shintoismus des Buches ins Auge, welcher eine gelungene Darstellung der japanischen Kultur bildet. Andererseits darf man nicht außer Acht lassen, dass wenn diese Weltanschauung auch Murakamis nachempfunden ist, es betrüblich wäre, einfach weil ein aufgeklärter Verstand nicht auf die These zurückgreifen sollte, dass ein Kind erst mit der Namensgebung zum Ich wird, obwohl die vorgeburtliche ‘Prägung’ und das natürliche Bewusstsein eines Menschen schon im Mutterleib vorhanden ist.
Auch ist es meiner Meinung nach bedauerlich, dass die zwar künstlich herbeigeführten, aber dennoch tiefsinnigen Dialoge der Lektüre primär von männlichen Protagonisten geführt werden und die Charaktere oft einer klassisch-altmodischen Rollenverteilung entsprechen. Frauen, die gar ‘nur’ für die emotionale Aufarbeitung stehen oder lediglich ‘Socialising’ betreiben, einen Sinn für Ästhetik besitzen und als Sexualobjekt dienen, bleiben unzumutbar und sind fürchterlich antiquiert. Obwohl man natürlich nicht vergessen darf, dass solch vorgegebene Beziehungsgeflechte bis heute tief in der Gesellschaft Japans verankert sind. Nichtsdestotrotz kann und möchte ich den Aufschrei der Feministin in mir nicht unterdrücken, denn Diskussionen und Debatten über (welt)politische Themen, Philosophie, Logik, Tod, Selbstfindung u.ä. dürfen niemals geschlechtsspezifischen Attributen vorbehalten sein.
Andererseits ist es im Rahmen des wiedergegebenen Umfelds und unter Berücksichtigung des Alters des Schriftstellers beziehungsweise der Generation, aus welcher dieser stammt, unumstritten mutig Homosexualität in der Handlung zu verarbeiten. Wobei ein aufgeschlossener Geist von dem Umgang, sowie der Auslebung mit dergleichen wiederum beschämt wäre.
Ein weiter schöner Aspekt sind auf jeden Fall die kleinen liebevollen Anlehnungen von hauptsächlich europäisch geprägter Kultur und Musik.
Was die Geschichte an sich betrifft, so stimmt diese einen zweifellos nachdenklich. Allein wegen der Grundthematik von Depressionen, Aus,- und Abgrenzung. Doch es bleiben ebenso hoffnungsfrohe Augenblicke, wie die der erfolgreich beruflichen Selbstverwirklichung, bestehen und lassen den Reifeprozess, die Pilgerjahre, der beteiligten Figuren erkennen. Dieser Reifeprozess wird noch dadurch verdeutlicht, dass in der Erzählweise der Interaktion der Charaktere grundsätzlich nur die Spitznamen oder Nachnamen der Handelnden verwendet werden, allerdings zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte Zwei von ihnen dazu übergehen die direkten Vornamen den alten Gepflogenheiten vorzuziehen. Zum Verständnis sei an dieser Stelle angemerkt, dass Japaner generell auch in langjährigen Freundschaften oder vertrauteren Beziehungen nur selten überhaupt den Vornamen des Gegenebers nutzen. Die gesellschaftliche Norm verlangt vielmehr, dass die Nachnamen mit Suffixen der unterschiedlichen sozialen Stellungen und Verbindungen versehen werden.
Die Spannung des Romans wird hingegen konstant durch die aufgeworfene Grundfrage des Protagonisten nach der Ursache seines Ausschlusses aus der Jugendgruppe erzeugt und über die gesamte Handlung hinweg getragen. Letztes Endes bekommt der Leser diese geteilte Ungewissheit sogar aufgelöst, nicht jedoch ohne dafür den Preis weiterer, unbeantworteter Frage zahlen zu müssen. Für dieses Dilemma bietet der Autor zwar wiederum die des Lesers eigene Logik als Ausweg, offeriert aber gleichzeitig auch die von ihm aufgebaute Mystik einer Geschichte in der Geschichte, die sowohl philosophisches Traktat, als auch düster anmutender Kriminalroman sein kann.
Drastisch formuliert könnte man also zusammenfassen: Ob man die Erzählung nun als revolutionär oder hinterwäldlerisch bezeichnen mag, kommt immer auf den individuellen Betrachtungspunkt an. Auch die Fragestellung, ob ein Kollektiv nun tatsächlich das Nonplusultra darstellt oder doch der allein gewählte Weg der richtige ist, muss ein jeder für sich selbst entscheiden.
Folglich kann ich nachvollziehen, weshalb der Autor mit seinen Werken durchaus die Gemüter erhitzt und auch dieser Roman ein gutes Beispiel für das Polarisieren ist. Dennoch sehe ich das Positive dem Negativen überlegen und empfand das Buch als eine interessante Lektüre.
Wertung: 5 /7 Schreibfedern
Zurück zur Übersicht …