Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie (Lauren Oliver)

(c) formlabor, unter Verwendung eines Fotos von krockenmitte/ photocase.com; Corporate Design Taschenbuch: bell étage

Autor: Lauren Oliver
Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
Verlag: Carlsen
Erscheinungsdatum: März 2013
Seitenzahl: 448
Originaltitel: Before I Fall
ISBN-10: 3551312001
ISBN-13: 978-3551312006

Rezension

Was würdest du tun, wenn du den gleichen Tag sieben Mal durchleben müsstest? Was wenn dieser Tag der deines Todes wäre…

Mit dieser Frage sieht sich Sam, Samantha (Emily) Kingston, in dem Roman „Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie“ von Lauren Oliver, konfrontiert, als sie zusammen mit ihren Freundinnen Lindsay, Ally und Elody in ihrem kleinen Heimatort Ridgeview (Connecticut), auf dem Rückweg nach einer Party mit dem Auto von der Fahrbahn abkommt.

Es ist Freitag, der 12. Februar und eigentlich sollte dieser Schultag, wie jeder andere vor dem Valentinstag verlaufen. Neben dem Auseinandersetzten mit der eigenen Beliebtheit beziehungsweise dem unbedingten Beibehalten Selbiger, beschäftigt sich die Protagonistin nicht nur damit die erste gemeinsame Nacht mit ihrem Freund Rob, den Schwarm sämtlicher Mädchen, zu verbringen, sondern auch mit den typischen Sorgen eines High-School-Schüler-Alltags.

Dadurch wird sehr gut das Bild einer scheinbar unbedarft und für den Leser unsympathisch wirkenden ‘Tusse’ geschaffenen, die außer sich selbst und ihren Wirkungskreis kaum etwas wahrnimmt und die jeder in seiner eigenen Schulzeit sicher (leider) gekannt haben wird oder zu deren Gruppe und Freundeskreis man selbst gehörte.
Doch das die Welt keinesfalls schwarz-weiß ist und alles sprich jeder sowohl negative, als auch positive Seiten (an sich) besitzt und das gerade das nach Außen sichtbare oft vom Zufall geleitet wird, verdeutlicht sich schon in den darauffolgenden Kapiteln, weswegen der anfängliche Kontrast des scheinbar perfekten Lebens auch für die spätere Handlung eminent wichtig ist.

Denn nachdem Lindsay die Kontrolle über ihren Range Rover verlor und alle Vier von der Strasse in das schwarze der Nacht rasten und Sam lediglich noch etwas weißes vor der Windschutzscheibe, ein ‘undefinierbares’ Schreien ihrer Freundin, Zigarettenqualm und das Kreischen von Sirenen in der Ferne wahrnahm, erwacht die Sechzehnjährige fortan am Morgen des Unglückstages von Neuem. Sieben Mal durchlebt sie nun, angelehnt an die verschiedenen Phasen der Trauer,- sprich Schockverarbeitung (unter anderem ‘Überraschung’, ‘Verwirrung/ Gefühlschaos’, ‘Suchen und Sich-trennen’, ‘Neuorientierung’), die immer gleichen, aber veränderbaren Situationen des besagten Freitags, bevor sie zum ersten Mal wirklich sieht. Die Welt sieht, ihr Ich rettet und alles sich in einander fügen kann.

So gewinnt sie neben ganz neuen Perspektiven auf ihr bis dahin geführtes Leben und die Menschen in ihrem Umfeld, auch die Möglichkeit zu erkennen, was wirklich wichtig ist. Wer tatsächlich an ihrer Seite steht, wer Liebe erwidert, was dieses Gefühl wahrhaftig bedeutet und wie schön die alltäglichen, aber ebenso besonderen und kleinen Momente des Daseins sind. Sie findet sich selbst und gleichzeitig zu einem früheren Teil ihrer Persönlichkeit zurück, ohne dabei das bisher positiv Gewonnene zu verlieren.

»[..] Das Problem ist, ihr wisst es vorher nicht. Ihr wacht nicht mit einem unguten Gefühl auf. Ihr seht keine Schatten, wo keine sein sollten. Ihr denkt nicht daran euch … zu verabschieden.«

Man lernt mit Sam die Angst vor dem Tod zu verlieren, zwischenmenschliche Vorurteile in jeglicher Richtung abzulegen und die Zeit, die einem geschenkt wird, wirklich auszukosten, da man selten weiß, wie viel einem oder den einem nahe stehenden Menschen davon schließlich bleibt.

Auch wenn der Roman nämlich auf den ersten Seiten durchaus so anmuten mag, als dass er lediglich ‘Teenager-Probleme’ umfässt, darf man sich von diesem Eindruck definitiv nicht täuschen lassen, weil einem ansonsten eine absolut berührende (mit einer Priese gesunden Humor versehene) und auf jedes Leben übertragbare Geschichte entgehen würde.

»[...] – Das furchterregenste Geheimnis von allen, die Vergangenheit, die wir zu vergessen versuchen.«

Positiv ist ebenfalls, der bildlich, lebendige Schreibstil und die vielen persönlichen Elemente der Autorin, welche in diesem Roman mit eingeflossen sind (zumindest kann man diese an der sehr intimen Widmung, sowie den Danksagungen erkennen und den aus ihrer Biografie vertrauten Passagen), wodurch die Handlung wiederum ausgesprochen authentisch wirkt und einen sofort in seinen Bann zieht.
Ebenso hervorzuheben ist, dass entsprechend der jeweiligen emotionalen Lage, die von den Charakteren wahrgenommen Eindrücke variieren. Ein Beispiel dafür ist die Darstellung von Kents Haus oder auch die Schilderung des allmorgendlichen Sonnenaufgangs. Ersteres erscheint erstmals wie aus einem Märchentraum, Phantastisch, später wiederum als großer, bedrohlicher Eisberg.

Insgesamt betrachtet bleiben zwar zum Ende des Romans einige Was-wäre-wenn-Fragen unbeantwortet und offen, aber dieses Faktum unterstreicht gerade noch einmal gut, dass man sich am Besten selbst in Ruhe Gedanken über die Thematik machen sollte. Daher kann man sich einfach von der Geschichte auf eine interessante Reise mitnehmen lassen. Eine Reise bei der es darum geht, das Loslassen zu Lernen, die Menschlichkeit in ihrer Eigenheit anzunehmen und das große Geschenk von Zufall und Fügung, dem des Lebens, jeden unendlichen Moment in vollen Zügen zu genießen.

»Da habe ich begriffen, dass manche Momente ewig andauern. Sogar, wenn sie vorbei sind, dauern sie noch an, sogar, wenn man tot und begraben ist, dauern diese Momente noch an, vorwärts und rückwärts, bis ins Unendliche. Sie sind alles und überall gleichzeitig. Sie sind es, worauf es ankommt.«

Ich (die übrigens beide Seiten der Medaille kennt) habe mich ansonsten schon häufiger mit der Frage beschäftigt, warum Gemobbte letztendlich bei der ersten, sich ihnen bietenden Möglichkeit auch zu Mobbern werden, obwohl sie es ja bekanntlich ‘besser’ wissen müssten. Ein gleichermaßen sehr zentraler Komplex des Romans, welcher hierzu ebenfalls eine gute Antwortmöglichkeit liefert:
Erst wenn man das besitzt, was mich sich erträumt beziehungsweise sehnlich gewünscht hat und Selbiges zu verlieren droht oder direkt einbüßen muss, begreift man die Hintergründe und Konsequenzen seines Handelns. Im Prinzip sollte man bereits im Vorfeld weiser sein, aber nicht Nachzudenken, die eigene Unsicherheit, Angst und auch Zufall führen dazu, dass es erst die einschneidenden Erlebnisse bis hin zum Bewusstsein der Sterblichkeit im Leben eines Menschen sind, die einen prägen und einen letztendlich bewusster entscheiden lassen. Wie schon ein Zitat der Söhne Mannheims zu einem ähnlich, thematischen Song so schön lautete: „Der Mensch lernt nur, wenn er Scheiße frisst.“

Ein Buch, das letzten Endes zu den Werken gehört, die ich definitiv ein zweites Mal lesen würde und davon gibt es nur Wenige!

Quotes:

  • Eines der Dinge, die ich an jenem Morgen gelernt habe: Wenn man eine Grenze überschreitet und nichts passiert, verliert die Grenze ihre Bedeutung.[...] Man zieht immer wieder eine neue Grenze, immer ein bisschen weiter weg, und überschreitet sie jedes Mal. So verlassen manche Leute irgendwann die Erde. Ihr wärt überrascht, wie leicht es ist, aus der Umlaufbahn auszubrechen, an einen Ort geschleudert zu werden, wo niemand einen berühren kann. Sich zu verlieren – verloren zu gehen.
  • […] Aber später fing ich an, über Zeit nachzudenken und darüber, wie sie endlos immer weiter vorwärtsdrängt und – rinnt und – flutet, Sekunden zu Minuten zu Tagen zu Jahren werden und alle dasselbe Ziel haben, eine Strömung, die ewig in eine Richtung fließt. Und wir gehen und schwimmen alle so schnell wir können und helfen ihr dabei. Was ich damit sagen will: Vielleicht könnt ihr euch erlauben zu warten. Vielleicht gibt es ein Morgen für euch. Vielleicht gibt es für euch tausend Morgen oder dreitausend oder zehntausend, so viel Zeit, dass ihr darin baden, euch darin wälzen könnt, sie durch eure Finger gleiten lassen, wie Münzen. So viel Zeit, dass ihr sie verschwenden könnt. Aber für einige von uns existiert nur das Heute. Und es ist so, dass man es nie genau weiß.
  • Komisch, wie stark man sich verändert. […] Eigentlich schade, wenn man mal darüber nachdenkt. Als gäbe es bei den Menschen keine Kontinuität. Als würde irgendetwas abreißen, sobald man zwölf oder dreizehn wird oder ab wann auch immer man kein Kind mehr, sondern ein „junger Erwachsener“ ist, und danach ist man ein völlig anderer Mensch. Vielleicht sogar ein unglücklicherer Mensch. Vielleicht sogar ein schlechterer.
  • „Hab ich Halluzinationen?“, fragt er, als er (Sams Vater) seine Aktentasche abstellt. „Ist das möglich? Samantha Kingston? Zu Hause? An einem Freitag?“ Ich verdrehe die Augen. „Weiß nicht. Hast du in den Sechzigern viel Acid genommen? Könnte ein Flashback sein.“ „1960 war ich zwei. Ich kam zu spät zur Party.“
  • Dann sieht Juliet mich an. Sie lächelt, aber es ist das traurigste Lächeln, das ich je gesehen habe. „Nächstes Mal vielleicht“, sagt sie. „Aber wahrscheinlich nicht.“

Wertung: 6 /7 Schreibfedern
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