Autor: Ralph Westerhoff
Titel: Kalte Fluten
Verlag: Emons
Erscheinungsdatum: 13. Oktober 2011
Seitenzahl: 288
ISBN-10: 3897058502
ISBN-13: 978-3897058507
Rezension:
Der Küstenkriminalroman „Kalte Fluten“ von Ralph Westerhoff stellt einem in seiner dreigliedrigen Handlung gleich im ersten Abschnitt einen der Protagonisten, nämlich den Kriminalhauptkommissar Wolfgang Franke, sowie dessen Kollegin Wiebke Sollich, vor.
Franke, welcher kurz nach der Wende mit Kind und Kegel aus München in ein kleines Reetgedecktes Haus nach Graal-Müritz zog, kämpft schon lange nicht mehr nur gegen die täglichen Verbrechen in der Hansestadt Rostock, sondern vielmehr mit der Drogensucht seiner erwachsenen Tochter Lydia. Diese nimmt Heroin und gibt sich selbst nach einem physisch erfolgreichen Entzug lieber dem Unternehmer und Drogenhändlerring-Vorstand Fritjof Hansen hin, als ein geregeltes Leben führen zu wollen.
Derweil erhält Wiebke Avancen von Dr. Thomas Schulte, seines Zeichens Psychiater an der Universitätsklinik, der die Polizeidirektion Rostock bereits bei einigen Fallermittlungen unterstützt hat. Als leitender Staatsanwalt im Roman verfolgt zudem Günther Menn Wirtschaftsvergehen jeglicher Art und wird ebenfalls als Zugezogener, ursprünglich aus dem Ruhrgebiet stammend, eingeführt. Diese Figuren, ergänzt durch beispielsweise dem Pathologen Dr. Streicher, dem engsten ‘Mitarbeiter’ von Hansen, Christof Lürßen oder aber auch einem später noch in den Vordergrund tretenden, ehemaligen Kommilitonen Menns, bilden schließlich den Ermittlungskern der Handlung.
Das erste zu beklagende Opfer ist alsbald Lydia Franke, welche als Schein-Geschäftsführerin eines Etablissement in Amsterdam und Bodypackerin, leblos in einem ICE gefunden wird, der aus dem niederländischen Grachten- und Marihuana-Mekka zurück an die Küste fuhr. Ihr Tod stellt vor allem für Wolfgang ein Schlüsselereignis dar, weshalb sich Selbiger nicht nur für ihn wie ein roter Faden durch das Buch zieht, sondern der Überdosis-Tod ebenso Anlass dafür ist, dass kurz darauf ein selbsternannter Rächer sein Ideal von ausgleichender Schuld und Sühne
in der Stadt wiederherzustellen versucht.
So wird der bis dahin Anonyme, welcher schon im Prolog lebendig in einer Holzkiste unter der Erde begraben wurde, um seine – dem Leser unbekannten – Taten in den letzten Stunden seines Daseins zu ‘bereuen’, nicht der Einzige Tote bleiben und die, besonders noch für Wiebke sehr persönlich werdende Suche nach dem eigentlichen Serientäter beginnt.
Nachdem ich vor wenigen Tagen feststellen musste, dass die mittlerweile nun mehr 24. Hanse Sail immer näher rückt und das Fernweh beziehungsweise Heimweh als bekennendes Nordlicht, welches momentan ‘gezwungenermaßen’ in Mittel(Süd)deutschland vor Anker liegt, auch nicht geringer wird, ist mir fast automatisch dieses Buch in die Hände gefallen.
Dessen Handlung ich abgesehen von der Tatsache, dass das Ende mit einem überraschenden, aber dennoch vermutlich dem ältesten Stilelement überhaupt aufwartet und Wiebkes Zwiegespräche mit ihrer Mutter unauthentisch wirken, gelungen finde.
Positiv ist ebenfalls, dass man durch Kommissar Franke einen realistischen Eindruck davon bekommt, wie man sich als zugezogener Westdeutscher, selbst nach über zwanzig Jahren Wende, tatsächlich in der Küstenstadt fühlen kann – den man allerdings revidieren muss, sobald man in eine mittel(süd)deutsche Kleinstadt zieht, weil dort selbst der kleinste, negative Aspekt des einstigen Aufenthaltsortes, plötzlich etwas Gutes erhält. Auch die Atmosphäre von Rostock wurde schön umschrieben, wobei jedoch das Manko zu berücksichtigen bleibt, dass manche Ortsteile geografisch in die Innenstadt verlegt wurden, die dort nichts zu suchen haben und umgekehrt. Sprich die geschichtlichen Hintergründe zwar recherchiert wurden, anderseits deren Beschreibungen leider oft oberflächlich bleiben.
Interessant ist meiner Meinung nach auch, dass der Autor in dem Werk drei ‘faule’ Stützpfeiler der Hansestadt deutlich hervorgehoben hat, die im Prinzip jeder Bürger in gewisser Art und Weise wiedererkennen wird: die Immobiliengeschäfte (das kann ich nur lachend bestätigten, denn als beispielsweise ‘simpler’ Mieter kann man bei der in Rostock größten Wohnungsgesellschaft, die zu dem 80 % des Marktes kontrolliert, bei einem Mietrechtsstreit noch nicht einmal einen Anwalt in der Stadt finden, da diese entweder für das Unternehmen arbeiten oder Vereinbarungen mit ihnen getroffen haben, nicht gegen die GmbH vorzugehen), Drogenhandel und letztendlich das menschliche Versagen einzelner Individuen in wichtigen staatlichen beziehungsweise gesundheitlichen Institutionen. Eine plausible Begründung weshalb sich all dies so entwickelte wird einem dazu allerdings ebenfalls gleich mitgeliefert. Die Wendeproblematik und deren feinen Verstrickungen. Von dem Westdeutschen der mit mittelprächtigen Noten nur im Osten eine der vielen gerade neu zu besetzenden Stellen oder eine Beförderung, auf die er wiederum in seiner ursprünglichen Heimat zu lange hätte warten müssen, ergatterte, sowie die im Osten verklärten Wahrnehmungen ihrer jeweiligen Lebenssituation sprich die Verschiebung der Relation (siehe Zitat Seite 104) und schlicht die fehlenden Ressourcen.
Ein Roman der Vorurteile aus dem Weg räumt, Raum zum Nachdenken schafft und natürlich auch durch überspannte Dramaturgie und sonderliche Namensabwandlungen auffällt. Dennoch werde ich auch den zweiten Fall für Kommissarin Sollich „Raue See“ verfolgen und kann dieses solide Werk, selbst mit seinen klein-großen Schwächen, empfehlen!
Quotes:
- Lydia sehnte sich nach ihrem Wunderland. Und das Elysium lag ganz sicher nicht in Graal-Müritz. Aber auch nicht mehr in München. Das Dorado ihrer Sehnsüchte war überall, wenn sie es nur wollte. Das Ticket dorthin kostete um die hundert Euro. Im Grunde ein Schnäppchen. Eine Art Last-Minute-Reise in eine andere Welt. Der Jet bestand aus weißem Pulver. Die Maschine stand bereit. Man wartete nur noch auf sie als letzten Passagier. Die musste nur noch einchecken.
- Doch mit der Wissensvermittlung ist es wie mit dem Säaen von Saatgut: Nur auf fruchtbaren Boden ausgebracht besteht die Chance auf reiche Ernte.
- Abnormalität ist die Abweichung vom Normalen. Und normal ist das, was von der Gesellschaft in ihrer jeweiligen Zeit als normal definiert wird. Wer davon abweicht, ist per Definition krank, muss behandelt und vielleicht sogar eingesperrt werden.
- Wer hier lebte, war sich seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst. Er lebte. Wissend, dass das eigene Leben auf Pfählen im Morast der Zeit gebaut war.
- Sie gehörten zu den Gestrandeten der Wiedervereinigung, zu denjenigen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren und deren einziger Lebensinhalt darin bestand, irgendwie den Tag zu überleben, um sich am Abend durch Stammtischphrasen einzureden, dass dass System schuld sei. Sie beschwerten sich lautstark.
Über die Kapitalisten.
Über die Parteien.
Über die Ausländer.
Über die ach so ungerechte Gesellschaft, die sich nicht brauchte und deshalb ausgrenzte. Das war in den Zeiten, die sie jetzt glorifizierten, allerdings auch nicht anders gewesen. Früher hatten sie zwar einen Arbeitsplatz gehabt, waren aber zum Wohle der Partei, des Staates und des Sozialismus ausgebeutet worden. Das, was sie jetzt als staatliche Wohlfahrt erhielten, ermöglicht ihnen heute sogar einen Lebensstil, der damals nur einflussreichen Bonzen vorbehalten war. In der DDR wären sie mit ihrem heutigen Einkommen ganz oben gewesen. Heute gab es jedoch andere, die viel mehr hatten. Deshalb war das, was früher ganz oben bedeutet hätte, heute eben nur ganz unten. Auch damals hatten sie über die Gesellschaft geschimpft.
Über die Bonzen.
Über die Partei.
Über die Russen.
Sie waren unten. Damals wie heute. Nur die Relation hatte sich verschoben. Und das Ziel ihrer Schimpf- und Frustrationskanonaden.
Wertung: 4/7 Schreibfedern
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