Schoßgebete (Charlotte Roche)

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Autor: Charlotte Roche
Titel: Schoßgebete
Verlag: Piper
Erscheinungsdatum: 10. August 2011
Seitenzahl: 288
ISBN-10: 349205420X
ISBN-13: 978-3492054201

Rezension:

Elizabeth Kiehl, welche in autobiografischen Auszügen der Autorin nachempfunden und Hauptfigur, als auch Ich-Erzählerin des zweiten Romans „Schoßgebete“ von Charlotte Roche ist, führt einen unvermittelt in den Alltag ihrer kleinen, bescheidenen und mühsam geordneten Welt ein. Als kontrollierte, jedoch von Neurosen, Paranoia und Depressionen geplagte (Ehe)Frau, welche sich nur beim Sex richtig fallen lassen und dort ihren Ängste zeitweilig entfliehen kann, lernt man nicht nur Elizabeth selbst, die Sorgen ihres Patchwork-Familienlebens, sowie einzelne Therapiestunden mit ihrer Psychiaterin kennen, sondern auch die Akteure ihrer ganz persönlichen Lebensgeschichte.

Eine Geschichte die am Tag vor ihrer Hochzeit durch den Verlust ihrer drei Brüder bei einem Verkehrsunfall ihren traurigen Höhepunkt findet und von dort an ihren Alltag bestimmt. Das Weltbild der jungen Frau wird dermaßen einschneidend geprägt, als dass die Erlebnisse des Ungklücks auch an ihrer Persönlichkeit nicht spurlos vorüber gehen und diese grundlegend ändern. Selbst ihre Tochter Liz, sowie die Beziehung zu ihrem (neuen) Ehemann mögen ihr nur bedingt Linderung und Trost spenden. So versucht die Protagonistin stets die Balance zwischen dem Wahnsinn, aber ebenso den schönen Momenten des Lebens und der Gewissheit des Todes zu halten, was der Leser in einem dreitägigen Einblick ihrer Welt gut begleiten kann.

Meinem persönlichem Empfinden nach, war der Roman insgesamt sehr durchwachsen. Zwar hatte ich das Glück zu der vermutlich kleinen Personengruppe zu gehören, die vollkommen unvoreingenommen an das Buch heran gehen konnte, einfach weil ich weder Feuchtgebiete, noch etwas anderes direkt von der Autorin im Vorfeld gesehen oder gelesen habe – lässt man medienkritische und polarisierende Berichte einmal Außen vor – doch auch diese Tatsache, half leider nicht über die mangelnde Handlung und die sprachlichen Ungereimtheiten der Lektüre hinweg.

Das Positive widerum ist, dass der erste Eindruck der eigentlich unvereinbaren Widersprüche, wie beispielsweise einem eher unappetitlichen Vergleich bei einer Sexszene und dem Kontrast eines der umgesetzten Erziehungsratschläge von Jasper Juul oder auch aufgegriffene Welterklärungen aus dem Geo Magazin, einen ziemlich schnell zu der Kernbotschaft des Werks führen. Nämlich, dass das Unvollkommene im Prinzip genau richtig und perfekt ist.
Oder auch, das das Leben [an sich] lediglich von Zufällen gelenkt wird, weil nur die Tatsache, dass ein jeder früher oder später zu einem Spaziergang mit Gevatter Tod eingeladen wird, gewiss ist und Sex in allen Variationen dazu immer eine gute Methode der Ablenkung darstellt.

Was allgemein den Schreibstil betrifft, so wird Niedersachsen (wie ich selbst aus eigener Erfahrung nur zu gut weiß) oft nachgesagt, dass sie Sprechen wie andere Schreiben, im Buch ist es genau umgekehrt. Denn das Vokabular entspricht dem des Großteils der Gesellschaft:

Umgangssprachlich mit manchmal gruselig anmutender Grammatik, wovon Sätze wie „Ich frag die das mal“ und Ähnliche zeugen. Wenn man jedoch darüber hinweg sehen beziehungsweise vielmehr lesen kann, muss man feststellen, dass abgesehen von einigen banalen Schilderungen im ersten Drittel des Werkes, bis zur Hälfte einem die stetig vor sich hinplätschernde Geschichte, gerade was den furchtbaren Unfall der Familie anbelangt, durchaus berührt und tief bewegt. Es kommt sowohl Verständnis gegenüber allen Beteiligten, ebenso wie Mitgefühl auf. Leider wird man jedoch durch die sich im Anschluss ständig wiederholenden Phrasen und bereits ausführlich erläuterten Themen, ernüchternd in der (vielleicht beabsichtigten) belanglosen Leere zurück gelassen. Eine bessere Strukturierung des Aufbaus wäre hier mit Sicherheit hilfreich gewesen.

Anderseits ist die kritische Auseinandersetzung mit den eher antiquierten Ansichten der frühen Versuche des Feminismus durch die offene, direkte und für manch einen eventuelle auch provokative Sexualität, sowie die Entwicklung des Pressewesens in Hinblick auf die Sensationsgier, der Umgang mit eben diesen Medien und die Veränderung eines Charakters, welche mit einem Schicksalsschlag einhergeht, sehr interessant. Auch die negative Darstellung von Rauchern und Alkohol ist gelungen, absolut vorbildlich, sowie meiner Anschauung entsprechend. Nicht aufgrund von diversen Ängsten, sondern vielmehr aus familiär prägender Erfahrung. – Wie war das an dieser Stelle gleich noch einmal mit den Müttern, die an allem Schuld seien? Nein, aber ebenso ernsthaft betrachtet, finde ich es wirklich gut, dass Charlotte Roche oft Meinungen und Bilder fernab der gesellschaftlichen Mitte aufzeigt.

Trotzdem bleibt letztendlich das Resümee einer durchsetzten Erzählung bestehen, von der sich jeder selbst einen Eindruck verschaffen muss, um mit diskutieren zu können, was ich nur wärmsten empfehlen kann!

Quotes:

  • Wir haben nie darüber geredet, über Geld, über Sex, die Liebe war einfach da, und im Nachhinein macht alles Sinn.
  • Der Tod spaziert von Anfang an neben unserer Liebe her.
  • Ich darf das, man darf jeden verlassen, wenn man rausgefunden hat, dass er schlecht für einen ist […].
  • Wenn das Schicksal zuschlägt, ist das auch nur ein Zufall. Oder menschengemacht. Jeder Unfall. Schicksal, wenn man juristisch unschuldig dran ist, oder selber Schuld, wenn man den Unfall verursacht hat. Mehr gibt es nicht.
  • Das Aufstehen macht mir jedes Mal zu schaffen. Habe selber als Kind schon immer Theorien entwickelt, dass irgendwas nicht stimmt, wenn immer alles, Schule, Arbeit, Krankenhaus, so früh anfängt in diesem Land. Das macht doch das ganze Leben kaputt. In der Schule haben wir gelernt, dass jeder Mensch seinen eigenen Biorhythmus hat, das wird aber nicht in die Wirklichkeit übertragen. Man lernt hier in der Schule, dass das System falsch ist. Und trotzdem läuft es genauso weiter.
  • Ich sage es Ihnen noch mal: Sie dürfen gehen. Jede Beziehung zwischen Erwachsenen sollte zu jeder Zeit auf Freiwilligkeit beruhen.

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